So könnten sie ausgesehen haben, die verlorenen Fliegen aus dem Buch von St. Albans. Denn verloren ist nur ihr Bild.
Die zwölf Fliegen der Dame Berners in der „Treatise of Fishing with an Angle“, in altem Englisch „Treatyse of Fysshynge with an Angle“, sind bis auf den heutigen Tag eine faszinierende Aufgabe für einen Fliegenbinder. Leider sind die Bindeanleitungen allein mit Worten überliefert, und weder Holzstiche noch erhaltene Originalfliegen sind bekannt. Die ältesten erhaltenen Fliegen sind aus dem späten 17. Jahrhundert. Was ja aber nicht ausschließt, dass irgendwo auf einem Schloss noch ältere herumliegen. Die Anleitungen zu den Treatise-Fliegen sind Mittelenglisch, aber mit Hilfe der großen Wörterbücher M.E.D., Middle English Dictionary, und O.E.D., Oxford English Dictionary, lassen sich die meisten Wörter erklären und in heutiges Englisch übersetzen. Fliegenbinden ist allerdings komplizierter als Sprache. Eine Bussardfeder ist eine Bussardfeder, und damit ist einem Sprecher meist gedient. Der Binder möchte genau wissen, welche Feder gemeint ist. Von welcher Stelle am Vogel wird sie genommen? Wie wird sie verarbeitet? Soll man Segmente nehmen, Fibernbündel, Federspitzen oder Daunen? Und in welche Richtung sollen sie zeigen? Nach hinten, nach oben, nach vorn womöglich, geteilt vielleicht, oder gar seitlich spent? Die „Treatise“ schweigt. Ihre Anleitungen sind karg. Allein aus später geschriebenen Büchern lassen sich Erkenntnisse gewinnen, und man kann rekonstruieren, wie die berühmten „XII“ sehr wahrscheinlich gebunden wurden. Näher als dieses sehr wahrscheinlich kommt man nicht ran. Man benutzte kräftige kurze Haken. Das geflochtene Pferdehaarvorfach wurde fest eingebunden. Der Bindefaden war entweder naturfarben und pflanzlich eingefärbt. Pech, Leim und Wachs waren bekannt, aber ob und wie man sie einsetzte, wissen wir nicht. Hechelwicklungen waren noch nicht üblich. Der Flügel war das bestimmende Element und wurde aufrecht und nach vorn eingebunden. Soweit die Vermutungen, die man in der einschlägigen Literatur finden kann. Nun ist Fliegenbinden gewiss keine Wissenschaft, aber ähnlich wie die experimentelle Archäologie kann man sie der Wortfindung der Sprachwissenschaft und der Sinnfindung der Literaturwissenschaft durchaus zuordnen. Feder und Faden finden auf ganz natürliche Weise zueinander, und wenn etwas nicht geht, dann wurde es vermutlich 1496 auch nicht so gemacht. Andere „Federlinge“ der Zeit waren die Fletcher, die Gänsefedern an Pfeilschäfte wickelten, und die Falkner, die Falkenhauben mit einem Trosch verzierten, auch Hutmacher und Helmschmiede arbeiteten mit Federn. Der Fliegenbinder, dessen Geburt man symbolisch an das Jahr 1496 knüpfen könnte, ist also in guter Gesellschaft.
Marche. The Donne Flye
„The donne flye. the body of the donne woll & the wyngis of the pertryche.” Donne heißt dun, also braungrau oder graubraun, je nachdem ob man Anglist oder Fliegenfischer ist. Außerdem könnte donne damals schon Dun als Subimago gemeint haben, aber eine Beschreibung schlüpfender Insekten kennen wir erst aus Taverner, und zwar 104 Jahre später. Pertryche ist das Rebhuhn, und der Fliegenflügel könnte sowohl aus einer Flügelfeder als auch aus einer Körperfeder gefertigt sein. Beide Federn sind im Farbton ähnlich, und ich habe die weiche Daune gewählt, die ja heute noch als eine der fängigsten Federn gilt. Warum sollte man das im 15. Jahrhundert nicht auch schon erkannt haben?
Marche. Another Donne Flye
„A nother donne flye, the body of blacke woll: the wynges of the blackest drake: and the lay vunder the wynge & vunder the tayle.” Der Name bleibt, aber die Farbe der Fliege ist weder anglistisch noch fischereilich donne. Heißt donne also doch Subimago? Ein Körper aus schwarzer Wolle ist schnell gemacht, und eine sehr dunkle Entenfeder ist ebenfalls kein Problem. Aber über die Feder vom Eichelhäher lässt sich lange nachdenken. Es ist wohl nicht die Position der Feder an der Fliege, sondern die Position der Feder am Vogel gemeint. Und unter dem Flügel und unter dem Schwanz hat ein Eichelhäher bräunliche Daunen. Die Fliege bekommt darum einen Doppelflügel mit Ente im Eichelhähersandwich. Sollte die Donne Fly so gewesen sein, liebe Kollegen von 1496, ziehe ich meinen Hut. Zwei Flügel. Respekt.
April. The Stone Flye
„The stone flye. the body of the blacke wull; & yelowe vunder the wynge. & vunder the tayle & the wynges of the drake.” Eine Fliege mit einem zweifarbigen Körper, denn tayle meint anscheinend das Körperende der Fliege. Ich nehme darum die Anweisung wörtlich und binde gelbe Wolle jeweils unter das Körperende und unter den Flügel. Ob die Dubbingtechnik, die ja eine Spinntechnik ist, damals schon zum Fliegenbinden benutzt wurde, ist nicht überliefert. Ich binde mit gesponnenen Fäden. Für den Flügel wähle ich große Segmente aus dem Flügel einer Stockente. Der kräftige Bindefaden spaltet mir die Segmente, und nach einigen Versuchen lass‘ ich das so. Ordentliche Segmentflügel waren 1496 nicht üblich. Die gefalteten Flügel der frühen Trockenfliegen im 19. Jahrhundert unterstützen das Argument. Die perfekt aufrechten Segel kennen wir erst seit Halford.
The Roddyd Flye
„In the begynnynge of May a good fly. the body of roddyd wull und lappid abowte wyth blacke sylke: the wynges of the drake & of the redde capons hakyll.” Roddyd heißt rot, und dass diese Fliege damals schon für den Red Spinner oder den Great Red Spinner gedacht war, lässt sich vermuten. Der Körper gibt dem Binder kein Rätsel auf. Der Flügel schon. An einem Erpel gibt es einfach zu viele Federn, und ich entscheide mich für eine graue Schwungfeder vom Enterich und für Hechelspitzen vom roten Hahn, und nehme die grauen Segmente in die Mitte. Aber mehr als binderische Intuition kann ich für die Entscheidung nicht bemühen. Eine gestreifte Körperfeder sah einfach nicht Englisch aus, und die zarten Hechelspitzen müssen natürlich nach außen. Innen wirken sie ja nicht. So ergibt die Mischung einen Flügel, der in allen Strömungen lockt.
May. The Yelow Flye
„The yelow flye. the body of yelow wull: the wynges of the redde cocke hakyll & of the drake lyttyd yellow.” Ist dies die allererste Maifliege, die Maifliege Nr. 0? Immerhin ist in unserem Sprachraum Gelbe Fliege Volksmund für die Danica, und in England und Irland habe ich es auch schon gehört. Der Körper dieser Fliege besteht aus gelber Wolle. Für den Flügel habe ich ein Segment einer grauen Entenfeder gelb überfärbt und binde sie zusammen mit den äußeren Hechelspitzen ein. Die Entscheidung für den Flügel fiel schwer, denn eine Entendaune nimmt ja die gelbe Farbe besser an. Mit einer Daune gebunden sieht die Fliege aber amerikanisch aus, und irgendwo muss diese englische Tradition der Segmentflügel ja herkommen. Keine mir bekannte englische Trockenfliege des binderisch blühenden frühen 19. Jahrhunderts hatte einen Daunenfiberflügel. Sehr wohl natürlich fan wings, ganze Federn.
May. The Blacke Louper
„The blacke louper. the body of blacke wull & lappyd abowte wyth e herle of the pecok tayle: & the wynges of e redde capon wt a blewe head.” Der schwarze Wollkörper mit der Pfauenfiberrippung sieht noch 500 Jahre später sehr modern aus. Aber welchen Flügel soll man nehmen? Gab es einen roten Kapaun mit einem blauen Kopf? Das ist möglich, aber unwahrscheinlich, und ich entscheide mich für einen Flügelfeder von einem roten Kapaun und verarbeite sie mit blauer Seide. Ein letzter Zweifel bleibt, denn unser Königsberger Huhn hat ja einen blauen Kopf. Aber auch einen grauen Hintern. Louper könnte Vagabund bedeuten und wäre dann dem Mittelhochdeutschen entlehnt. Der „Schwarze Vagabund“, cooler Name für eine Fliege.
Iune. The Donne Cute
„The donne cutte: the body of blacke wull & yelow lyste after eyther syde: the wynges of the bosarde bounde on with barkyd hempe.” Da muss man staunen als Fliegenbinder. Ein schwarzer Körper mit einem gelben Seitenstreifen, und der Flügel aus Bussardfeder mit einem Hampffaden eingebunden, der vorher in Rindensud gefärbt wurde. Das meint vermutlich Gerberlohe. Kann es sein, dass diese Fliege Halford’s Welchman’s Button ist, die bekannte Sedge mit der gelben Körpermitte? Die Fliege hat vier Farbzonen, oben und unten schwarz, an den Seiten gelb. Fast so aufwändig wie ein geklöppelter Körper a la Gary LaFontaine.
Iune. The Maure Flye
„The maure flye. the body of dolke wull the wynges of the blackest mayle of the wylde drake.” Die Moorfliege, was für ein schöner Name. Das Wort dolke ist allerdings weder in M.E.D. noch O.E.D. verzeichnet. Auch doske, so wie bei Lawrie zitiert, bleibt ohne Ergebnis. Knotige Wolle wäre möglich. Aber was ist das. Ich entscheide mich für eine torffarbene Wolle. Der Flügel ist genau benannt, denn mayle heißt Brust. Wir benötigen also eine dunkle Daune von einer Wildente. Die Treatise gibt hier einen genauen Hinweis, wo die Feder gerupft werden sollte. Farbe und Struktur des Materials wurden sorgfältig bedacht. Aber Carl von Linné wird erst am 23. Mai 1707 geboren, mit ihm die Taxonomie, und so kennen wir die Art der Ente leider nicht.
Iune. The Tandy Flye
„The tandy flye at saynt Wyllyams daye. The body of tandy wull & the wynges contrary eyther ayenst other of the whitest mayle of e wylde drake.” Hier kommt man den Angaben zu black und white auf die Spur, denn beides ist wohl im Sinne von hell und dunkel zu verstehen. Die Tandy Flye, man könnte Gerberfliege sagen, hat einen Körper aus lohfarbener Wolle, und das ist eine Farbe, die wir kaum mehr kennen. Je nach Zusammensetzung hat Gerberlohe eine braun-orange-rote Färbung. Man sagt ja auch Rotgerbung. Besonders interessant ist der Flügel. Zwei oder auch vier Daunen der Wildente wurden Rücken an Rücken eingebunden, was den sogenannten Fan Wing erzeugt. Das ist erstaunlich modern. Der St. Williams Day ist der 23. Mai.
Iuyll. The Waspe Flye
„The waspe flye. the body of the blacke wull & lappid abowte wt yelow threde: the wynges of the bosarde.” Dieses imitierte Insekt ist unverkennbar die wehrhafte Wespe, und schwarzgelbe Kunstfliegen haben sich bis in unsere Tage gehalten, sind aber sehr umstritten. Von der stechenden Wespe bis zur harmlosen Schwebfliege gibt es hunderte Arten gestreifter Insekten. Alljährlich fallen Hunderttausende in die Gewässer. Und vermutlich ist der Streit, ob Forellen nun gestreifte Insekten nehmen oder verweigern, über 500 Jahre alt. Ein Wespenstich im Maul fühlt sich vermutlich an wie ein Hakenstich. Ich habe trotzdem Forellen nach Wespen steigen sehen, auch mehrfach, und wir wissen von anderen Fliegen, das gelb und schwarz wirken. Sogar bei Hemingway, denn der fischte „McGinty“.
Iuyll. The Shell Flye
„The shell flye at saynt Thomas daye. the body of grene wull & lappyd abowte with the herle of the pecoks tayle: wynges of the bosarde.” Der St. Thomas Day ist der 3. Juni. Der Körper aus grüner Wolle mit Rippung aus Pfauenfiber, der Flügel aus einer Bussardfeder, das lässt natürlich zusammen mit dem Monat Juni eine grüne Köcherfliege vermuten. Welche Art ist fraglich, Grannom und Marbled Sedge kommen in den Sinn, aber eigentlich kennen wir mehr grüne Larven als grüne Fluginsekten. Man fühlt sich bei der Shell Flye gedrängt den Flügel flach nach hinten zu legen. Anderseits kann man einer fliegenden Köcherfliege die Ruhestellung der Flügel ja nicht ansehen, und die Treatise Fliegen wurden vermutlich mehr getippt als gedriftet. Also stelle ich den Flügel hoch. Sollte sich das Wort shell auf den Köcher der Fliege beziehen, offenbart sich hier fundiertes naturkundliches Wissen.
August. The Drake Flye
„The drake flye. the body of the black wull & lappyd abowte with blacke sylke: wynges of the mayle of the blacke drake with a blacke heed.” Obwohl wir die großen Imagos der Maifliege heute immer noch drake nennen, muss man hier wohl eher Erpelfliege als Maifliege denken. Der Körper besteht aus schwarzer Wolle und schwarzer Seide, und der Kontrast zwischen glatter Seide und rauer Wolle wirkt fängig. Der Flügel besteht aus einer dunklen Entendaune. Die Kopffarbe hat schwarz zu sein, und wieder stellt sich die Frage, ob das den Erpel oder die Fliege meint. Da Stockente und Kricker keinen schwarzen Kopf haben, ist sicher die Fliege gemeint.
Diese zwölf Fliegen, man hört ja auch immer wieder „Die XII“, sind natürlich nicht die Zwölf, sondern nur meine Zwölf. So könnten sie ausgesehen haben. Doch wer wollte sich dafür verbürgen. Immerhin hat Bindematerial ganz eigene Gesetzmäßigkeiten, und wer die wahre Bedeutung der alten Worte erkennen will, muss Fliegen binden können. Das in den Bildern sichtbare Pferdehaar ist von einem Hengst, und Rieke hat es dankenswerterweise für mich geerntet. Der Bindefaden ist ein aufgespaltener Schusterhanf. Die Drake, die Shell, die Waspe, die Blacke und die Roddyd zeigen gerippte Körper, die Stone und die Donne Cutte geradezu komplexe Körper mit Farbakzenten. Die zweiteiligen Flügel sind beeindruckend, auch die fan wings, und der mit Lohe eingefärbte Kopf der einen Donne lässt die Vermutung zu, dass auch der blaue Kopf und der schwarze extra so gebunden wurden. Die übliche Bindeseide war vermutlich der erwähnte naturfarbene Hanf. Die Jagd auf Wasserwild mit der Flinte war 1496 nicht üblich, denn man fing Enten in großen Mengen in Entenfallen, sogenannten decoys. Der Bussard wurde auch nicht geschossen, sondern mit Fallen gefangen. Er stand eher unten in der Rangordnung der Beizvögel, wurde den Baronen zugestanden, und in der Nähe von Hühnern vermutlich nicht geduldet. Man hat ihm eifrig nachgestellt, da hatte die Landbevölkerung ganz stille Methoden, und seine Federn gab es zahlreich. Da hätten wir also Seide, Wolle, Hanf, und Kapaun, Ente, Eichelhäher, Pfau, Bussard und Rebhuhn. Die Komplexität und Sicherheit, mit der die Materialien verarbeitet und sogar zu einer Fliegenfamilie gefügt wurden, ist absolut erstaunlich. Davor muss eine Entwicklung gewesen sein, die uns schriftlich nicht überliefert ist. 1452 bis 1454 druckte Gutenberg die ersten Bibeln. Es ist nicht unwahrscheinlich anzunehmen, dass zeitgleich in England mit der Fliege gefischt wurde. Spätestens Richard III. hätte sich unserer Passion zuwenden können, dann wäre es ihm wohl besser ergangen. Binden Sie doch mal die Fliege, die Ihnen am besten gefällt, auf einem 10er Öhrhaken. Meine Wahl wäre die Donne Cutte. Damit einen Fisch zu fangen ist ein Erlebnis, das uns mit unseren Altvorderen verbindet. Ein Fliegenfischer von 1496 würde auf den ersten Blick erkennen, was wir tun. Ein Kutscher von 1496 jedoch würde mit offenem Mund Autos und Flugzeuge bestaunen. Der Fliegenfischer würde uns vermutlich auf die Schulter klopfen, der Kutscher jedoch der Inquisition melden. So gesehen ist Fliegenfischen gesünder als Autofahren.
Ingo Karwath