Der Homo balticus

Ein aktueller Forschungsbericht der konspirativen Humanethologie aus den grauen Weiten der Ostsee.

Der Homo balticus, dem ich nun schon seit vierzig Jahren auf der Spur bin, ist vermutlich eine höchst merkwürdige Unterart des Homo sapiens. In weiteren zwanzig Jahren hoffe ich ein weltweit anerkannter Experte für dieses Wesen zu sein, und bin zuversichtlich einen Status zu erlangen, der nur mit Reinhold Messner und seinem Yeti zu vergleichen sein wird. Ganz im Gegensatz zum Yeti ist der Homo balticus recht häufig, jedoch ist noch völlig unklar wie er sich vermehrt, ernährt, und wo er in den Monaten von November bis Februar seinen Winterschlaf hält.

Aus biologischer Sicht ist gerade seine Vermehrung ein großes Rätsel, denn an den Stränden der Ostsee trifft man fast ausschließlich männliche Exemplare der Spezies. Gelegentlich sogar sehr männliche Exemplare, die sich fünf Tage weder rasiert noch gewaschen haben, und an die man sich nur mit dem Wind anpirschen sollte. Zwar ist die Art an sich vollkommen harmlos, riecht aber gefährlich. Denn während sich die Fahrstuhl fahrenden Weicheier in der Städten mit Cool Water von Davidoff parfümieren, nimmt der Homo balticus das kalte Wasser als das was es ist und steht eigentlich ständig bis zur Brust mitten drin. Vermutlich weil sein Onepack ohnehin nicht so ausschaut wie ein Sixpack.

In dieser seiner liebsten Position schaut er absolut fasziniert in Richtung Horizont, und da er sich in den Sommermonaten selbst für unbekleidete Weibchen von Homo sapiens anscheinend nicht interessiert und auch die wenigen, sehr wenigen Weibchen seiner eigenen Art viel weniger spannend findet als den Horizont, scheinen sich die Arten erstens nicht zu kreuzen, und es drängt sich zweitens die Vermutung auf, dass sich der Homo balticus von November bis Februar durch Zellteilung vermehrt. Denn in jedem neuen März scheint die Spezies zahlreicher zu sein als noch im Jahr zuvor. Dieser Befund ist natürlich absolut vorläufig, aber bedenkt man alte Wahrheiten, ich zitiere Prof. Dr. Richard Ford: „Nass und eisig, ist schlecht für’n Zeisig!“, scheint eine asexuelle Vermehrung insgesamt doch sehr wahrscheinlich.

Auch die Ernährung gibt dem Forscher Rätsel auf. Die Spurenlage ist schwierig. Man begegnet an den Stränden der Ostsee zwar immer wieder dem Homo sapiens allein oder zu zweit mit einem freilaufenden Hund, und es gehört unbedingt zum guten Ton, einen oder mehrere Plastikbeutel mit sich zu führen, um das große Geschäft seines Vierbeiners zu entsorgen. Leider ist es der Wissenschaft bisher weder gelungen ähnliches oder gar ein Gewölle vom Homo balticus zu besorgen, um endlich einmal aussagekräftige Analysen und DNA-Vergleiche machen zu können. Immerhin ist mit starken Ferngläsern oder Spektiven zu beobachten, dass der Homo balticus Nahrung zu sich nimmt und auch trinkt. Mitnichten muss er auch müssen. Man sieht ihn aber nur sehr gelegentlich in ufernahe Wälder hasten. Besonders possierlich gestaltet sich jedoch, gerade bei Wind, das strandnahe Wasserlassen. Außerordentlich rätselhaft ist dann aber der Umstand, dass sich der Balticus aus silbernen Dosen und braunen Flaschen ernährt, auf denen man mit ganz starker Vergrößerung die Worte Carlsberg, Albani, Odense oder Tuborg erkennen kann. Denn er widmet sich sonst den lieben langen Tag der eifrigen Suche nach einer Nahrung, nämlich Fisch, die er dann letztlich gar nicht zu sich nimmt.

Während die frühen Balticus-Forscher nach den ersten dokumentierten Anblicken noch glaubten, dieses Wesen sei so eine Art Hominiden-Boje, wurde im Verlaufe langjähriger Forschung dann ja doch geklärt, dass die Art zwei Beine hat. Die man selten und nur dann sieht, wenn unser Beobachtungsobjekt dem Strande zustrebt und pieselt oder sich aufwärmt. Beides ist im kalten Wind sowohl physikalisch als auch physiologisch schwierig. Über die Farbe der Beine wurde unter Experten eifrig gestritten, bis sich letztlich aus zahlreichen Beobachtungsprotokollen Simmsbraun und Patagoniabeige als die beiden Standards etablierten. Unter der äußeren Farbschicht befindet sich bei allen farblichen Spielarten vermutlich eine kalkweiße Grundierung. Der Oberkörper wirkt meist grün, manchmal auch grau, selten beige. Und obwohl die Art ganz überwiegend nur in Dänemark, Deutschland, Finnland und Schweden beobachtet wird, neuerdings auch in Norwegen und Polen, ergeben sich zumindest farblich eindeutige Überschneidungen mit dem Homo vineyardus, dem ähnlich unerforschten  nordamerikanischen Streifenbarschmann.

Für beide Arten typisch scheint auch eine andauernde kraftvolle Bewegung beider Arme, mit der sie eine Kohlefaserfliegenrute modernster Bauart und eine sauteure Fliegenrolle hin und her bewegen. Über die Ausrüstung des fischenden Männchens des Homo balticus wissen wir deutlich mehr als über die Subspezies selbst. Anscheinend gelingt es der Art immer wieder, irgendwelche selbst gemachten Perlen gegen Euros zu tauschen und über Strohmänner und konspirative Adressen das handelsübliche Angelgerät aus den Katalogen des Homo sapiens zu bestellen. Die neuere Forschung ist mit einfacher Arithmetik zu der nunmehr sicheren Erkenntnis gelangt, dass der Homo balticus sich im Prinzip ein Weibchen seiner Art gar nicht leisten kann, es sei denn ihm gelingt es ein Exemplar zu finden, dass weder Schuhe noch Taschen und Cashmere Twin-Sets besitzen möchte, was nach den Forschungen im Sapiens-Umfeld etwa so selten ist wie ein Sechser im Lotto. Jedenfalls außerhalb roter Zellen und grüner Kommunen. Auch dieses ein Argument für die schon vermutete Zellteilung.

Und während der deutlich höher entwickelte Homo sapiens in der angenehmen Umgebung bayrischer und österreichischer Hotels seiner Passion frönt, im luftigen Frühling, im lauen Sommer, im goldenen Herbst, umschmeichelt vom Duft teurer Parfüms und gebratener Filets, ganz zu schweigen von überteuerten Bouquets durchschnittlicher Rotweine, und also sein Freizeitvergnügen auf höchstem Niveau im Griff hat, erinnert der Homo balticus doch mehr an einen watenden Wikinger. Trotz dieser groben Anmutung scheint seine Feinmotorik vergleichsweise gut entwickelt, denn wie Funde abgerissener Vorfächer belegen, knüpft der Balticus mit 1,8 Promille in stockdunkler Nacht einen Rapala-Knoten mit einer jeweils exakt 3,2 Millimeter großen Schlaufe ohne auch nur an seine Kopflampe zu denken. Die Promille-Annahme verdanken wir einer Forschungsgruppe der Firma Carlsberg, die wie in der Wissenschaftsszene ja bekannt wegen besserer Bedingungen zu Jack Daniels wechselte.

Sein liebstes Bekleidungsstück ist eine ärmellose Jacke mit vielen Taschen. Nachdem bei Grabungen in der Gegend von Travemünde ein solches Stück gefunden wurde und von Experten des Bundeskriminalamts ziemlich exakt auf das Jahr 1900 datiert werden konnte, wurde in einer Nacht-und-Nebel-Aktion im Museum of Flyfishing in Vermont eine Vitrine umdekoriert, welche die Erfindung der ärmellosen Jacke bisher Lee Wulff zugeschrieben hatte. Zurzeit versuchen amerikanische Anwälte die wahren Urheberrechte zu ergründen und haben sich zu diesem Zweck nun schon seit Monaten heimlich im Arosa in Travemünde einquartiert, zu dessen maritimer Sammlung die antike Balticus-Jacke gehört. Derweil sind die Aktien US-amerikanischer Westenhersteller weiter im freien Fall.

Für die Forschung fast noch interessanter ist eine vollständig erhaltene ärmellose Jacke neueren Datums, sie enthält den dänische Lystfiskertegn 1052438700, Butik U3042, Odense 2007, die anscheinend in einem Ferienhaus in Bagenkop vergessen wurde. Ihr Inhalt gemäß Inventarliste des Museums in Rudköbing, in dessen Dauerausstellung sie nun ist: wasserdicht verpackte Pudelmütze, C&F Schnurspule, Mini-Handtuch, Seife, DeWitt-Streamerdose mit Borstenwürmern und Sandaalen, zwei mintfarbene C&F Fliegendosen voll, eine gelochte Dewitt-Dose leer, vier farblich gekennzeichnete Filmdosen mit folgendem Inhalt: Trockenfliegen, Meeräschenfliegen, Krautfliegen, bunte und leuchtende Perlen; lederne Vorfachtasche mit Polyvorfächern, Pfeife, Zigarrenetui, Feuerzeug, Reste von Erdnüssen und Tabak, drei Spulen Nylon, Zollstock, Thermometer, Notizbuch, Stift, Priest, Schweizer Seglermesser, Fischtrageschlaufen, Zange, Sonnenschutz-Lippenstift Sonnenbrille, Schleifstein, Minilampe, Schnurclip, Vorfachglätter, Gink, Xink, angehängt ein Fenwick-Kescher mit Magnethalterung, in der hinteren Tasche zusätzlich eine Nikonos V.

Dieser Fund wirft nun so viele Fragen auf, dass sich die Balticum-Abteilungen aller Universitäten im Hanseraum um Dritt- und sogar Viertmittel bemühen müssen, denn die neue zentrale Frage ist doch diese: Haben wir den Homo balticus unterschätzt? Ist er doch höher entwickelt als angenommen. Handelt er gar mit Perlen, um sich eine so komplexe Ausrüstung zu leisten. Wie kann es ihm gelingen sich in das Novasol-Computersystem zu hacken. Und will er wirklich nur ab und zu eine Meerforelle fangen. Das kann doch nicht alles sein.

Für die Forschungsgruppe „Balticus“: Dr. Ingo Karwath