Wie viel ist zu viel.
Von Mayor Oliver Kite haben wir die überlieferte Erkenntnis, der Fliegenfischer möge sich so ausrüsten wie ein Soldat für den Kampf. Das hört sich zwar martialisch an, ist aber ein guter Ausgangspunkt, um unsere so friedliche Passion einmal aus der Perspektive der Taschen in den Blick zu nehmen. Kite benutzte einen einfachen Beutel, der später als Erinnerungsstück zunächst bei John Goddard und dann bei Preben Torp Jacobsen landete. Dazu muss man den großen Unterschied zwischen arm und reich beachten, denn der wohlsituierte Fliegenfischer ließ sich 1890 ein paar neue Tweedjacken von seinem Schneider machen, und der minderbemittelte Fliegenfischer griff zu seiner ältesten Jacke. Ich muss wohl zu letzteren Sorte gehören, denn als ich mir neulich einen Faden aus einem mittelblauen Pullunder zog, mit einem splintigen Brett, war mein erster Gedanke sofort, aha, ein neuer Angelpullunder. Hat man sich früher vom Schneider eine Angeljacke machen lassen, lag es natürlich nahe, die unkonventionellen vier Taschen zu verlangen, wie man sie von Safari Jacken kennt. Damit erhöht man die Beiladung einer gewöhnlichen Jacke um 100 Prozent. Das konnte man mit kleinem Geldbeutel gut nachmachen, indem man sich vom Schneider zwei zusätzliche Taschen auf die alte Joppe nähen ließ. Die Herstellung von Konfektionsware, mit der unser Frederic Halford vielfacher Millionär geworden war, steckte um 1900 noch in den Kinderschuhen und hatte es nicht nötig, sich um solche Nischenprodukte zu kümmern. In den alten Angelkatalogen findet man immer mal wieder Bekleidung für Angler, aber viel mehr als eine Jacke, eine Regenjacke, Bootshosen und einen Überrock sieht man selbst bei Hardy bis 1960 nicht. In den USA aber trug sich eine andere Sache zu, die heute im Smithonian Institute mit der Nummer ID. 2014.0183 verwahrt wird. Im Winter 1931/32 nähte sich Lee Wulff eine Weste. Extra kurz, mit vielen Taschen, und zu einem guten Zeitpunkt, nämlich gleich 1945, kam das gute Stück als Tac-L-Pack auf den Markt. Der Krieg war vorbei, die Friedenswirtschaft zog an, und die Menschen wollten raus in die Natur. Die Anglerweste wurde zu einem ikonischen Kleidungsstück, wurde von Fotojournalisten und Künstlern getragen. Aber der Dollar war ebenso wie das Pfund eine Luxuswährung, und Tac-L-Pack und Hardy Jacken waren bei uns den oberen Zehntausend vorbehalten. In den aktiven 60er Jahren aber tut sich was auf dem europäischen Fliegenfischermarkt, denn am 23. Januar 1963 unterzeichnen Adenauer und DeGaulle das Freundschaftsabkommen beider Länder, und nachdem mit Charles Ritz und anderen französischen Fliegenfischern die Bekleidung von l’esquimeau an den Gewässern Einzug hält, wird es sowohl chic als auch politisch korrekt, sie zu tragen. Ich liege vermutlich nicht falsch, wenn ich behaupte, l’esquimeau und Hodgeman sind die beiden Marken, mit denen so etwas wie eine Anglermode zu entstehen begann. Wer Geld hatte, der trug beides. Viele Fliegenfischer sind auch Jäger, weil der Ausklang der Fischsaison ja der Beginn der Jagdsaison ist, und das passt nun einmal gut zueinander. Darum ist Jagdbekleidung ebenfalls sehr beliebt und in alten Zeiten sah man viele Fliegenfischer mit einer Jacke aus Jagdleinen am Wasser. Die passt aber nur zu Stiefeln oder Hüftstiefeln, in der Wathose macht man mit einem Jacket eine unglückliche Figur. In den Jahren von 1970 an wurde die Weste ständig weiterentwickelt, und berühmte Werbekampagnen befassten sich mit den vielen kleinen und großen Taschen am Gilet, denken Sie nur an Mutter von Columbia. In den letzten Jahren ist es still geworden um diese Ikone, und auch die Lobpreisungen von Watjacken haben erheblich nachgelassen. Nicht mehr ganz neu, aber doch zeitnah erfunden, ist die Rückkehr kreativer Taschen. Hardy, Brady und Wood River machten es einst vor, und aktuell bekommt man jede Menge wasserdichte Kunststoffseesäcke, mit denen man einen halben Hausstand ans Wasser schleppen kann. Als ich dieser Tage einen jungen Kollegen am Wasser sah, mit der üblichen Küstenfischeruniform, also Wathose und Watjacke, aber zusätzlich mit Weste, Guide Lanyard, einem großen Slingpack und am Gürtel zwei stumme Diener zum Halten von Fliegenruten, von denen er insgesamt drei mit sich führte. Am Stirnband eine GoPro. Er stand mit seinem gesamten Marschgepäck im Wasser. Major Kite wäre sehr amüsiert. Da kam mir der Gedanke, dass wir uns wehren müssen. Von Art Flick stammt der berühmte Satz, dass jedes Ausrüstungsextra die Erfolgschancen eines Fliegenfischers herabsetzt. Es sollten nicht die Taschen sein, die unsere Ausrüstung am Wasser diktieren, sondern zunächst sollten wir die Taschen unter unsere Kontrolle bringen. Wer mit zu viel Tragemöglichkeiten ans Wasser geht, wird unweigerlich zu viel tragen. Damit kommen wir zum Mackenzie-Dilemma, denn von diesem Entdecker sagt man ja, er bestimmte zunächst die Menge der überlebensnotwendigen Ausrüstung und nahm dann ein Drittel davon mit. Für den Fliegenfischer wird es ein Dauerthema bleiben, was und wie viel die nötige Ausrüstung ausmacht. Da kann uns keiner helfen. In jedem Fall aber muss man über die Zahl der Taschen, die man mir sich trägt, eigenständig und aktiv entscheiden. Gerät man da in eine passive Rolle, ist man ein „pocket victim“ und steht in einer Reihe mit denen, die im Winter keine Socken tragen, den „fashion victims“. In diesem Sinne, halten sie die Taschen kurz und die Füße warm, dann klappt‘s auch mit den Forellen.
Ingo Karwath